Orientieren und Laufen
Orientierungslauf (OL) ist eine Natursportart skandinavischen Ursprungs, die Körper und Geist gleichermaßen beansprucht. Die Aufgabe für den Orientierungsläufer besteht darin, mit Hilfe von Karte und Kompaß eine bestimmte Anzahl vorgegebener Kontrollstellen – sogenannter Posten – der Reihe nach anzulaufen. Diese Posten sind auf einer detaillierten Spezialkarte genau eingezeichnet. Die Routen zwischen den einzelnen Posten sind jedoch nicht vorgegeben, so daß der Orientierungsläufer während des Laufens ständig aufs Neue vor Entscheidungen über den günstigsten Weg zum Ziel gestellt ist. Wie in kaum einer anderen Sportart muß im Orientierungslauf somit Laufvermögen mit mentaler Beweglichkeit in Einklang gebracht werden. Dieses faszinierende Merkmal hat dem OL im englischen Sprachraum die Bezeichnung „the thinking sport“ eingebracht. Viele Menschen schätzen zudem die Eigenschaft dieser Ausdauersportart, Gelegenheit zur Bewegung in der Natur zu geben und durch das Erleben ihrer Einzigartigkeit zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Natur und Umwelt zu sensibilisieren.
Die Karte – das wichtigste „Sportgerät“ im Orientierungslauf
Das wichtigste Utensil, das ein Orientierungsläufer zur Ausübung seiner Sportart benötigt, ist die Karte. Für die wettkampfmäßige Ausübung der Sportart werden spezielle OL-Karten erstellt. Diese unterscheiden sich von normalen Wanderkarten dadurch, daß sie deutlich mehr Details wiedergeben. Daher weisen sie einen Maßstab von in der Regel 1:15.000 auf (1 cm auf der Karte sind 150 m in der Natur). So lassen sich viele Objekte auf einer Karte darstellen, die dem Läufer als Anhaltspunkte zu seiner Orientierung dienen können. Verschiedene Arten von Wegen (von Fahrstraßen bis zu kleinen Pfaden), verschiedene Vegetationsformen (Wiesen, Hochwälder, Dickichte) und einzelne Objekte (z.B. Häuser, Zäune, Gräben, Löcher, markante Einzelbäume oder gar Wurzelteller) sind auf den fünffarbigen OL-Karten eingezeichnet. Ebenfalls sehr präzise ist die Darstellung des Höhenbildes, so daß auch kleine Geländeformen dargestellt werden können.
Die Posten – Eckpfeiler einer Orientierungslaufstrecke
Das Skelett der je nach Alter und Geschlecht meist 2 bis 15 km langen OL-Strecken bilden die Kontrollpunkte – auch Posten genannt. Die Posten werden auf der Karte mit roten Kreisen dargestellt. Der Kreismittelpunkt ist der genaue Standort des Postens. Im Wald wird dieser Standort mit einem rot-weißen Stoffschirm zur guten Sichtbarkeit, sowie mit einer Lochzange markiert. Der Orientierungsläufer führt eine sogenannte Kontrollkarte mit, deren Felder er mit der Lochzange des jeweiligen Postens markiert. Anhand der verschiedenen Lochmuster kann hinterher geprüft werden, ob der Läufer wirklich die vorgegebenen Posten angelaufen hat.
Im Computerzeitalter bahnen sich auch bei den Orientierungsläufern Veränderungen in der Wettkampforganisation an, die dazu führen, daß die gute alte Lochzange zunehmend elektronische Konkurrenz bekommt. So liefen die Teilnehmer der WM 1995 in Deutschland erstmals mit an der Hand befestigten Chipkarten, die anstelle des bisherigen Systems den Nachweis erbringen, ob und wann der Läufer die einzelnen Posten angelaufen hat.
Orientierungslauf – ein Sport für jede und jeden
Orientierungslauf ist eine Sportart mit einer großen Spannbreite vom Breiten- und Gesundheitssport bis zum Spitzensport. Zwar hat OL in Deutschland nicht den Stellenwert einer Volkssportart wie etwa in Skandinavien, wo er ähnliche Popularität genießt wie hierzulande der Fußball. Dennoch gibt es hierzulande etwa 5.000 bis 10.000 Menschen, die Orientierungslauf in der einen oder anderen Form betreiben. Bei organisierten Wettkämpfen in den einzelnen Regionen kommen dabei in der Regel etwa 50 bis 200 Teilnehmer zusammen, bei den wenigen Bundesranglistenläufen und deutschen Meisterschaften sind es auch einmal bis zu 1.000. Ein besonderes Merkmal ist dabei, daß fast immer bei ein und demselben Wettkampf junge und alte Orientierungsläufer, Freizeitsportler und Athleten der Nationalmannschaft in ihren jeweiligen Kategorien an den Start gehen. Nicht selten können sich ganze Familien für den OL begeistern.
Auch weniger leistungsorientierte Orientierungsläufer genießen dabei das Erleben des eigenen Erfolgs. Das Auffinden jedes einzelnen Postens in der Natur nur mit Hilfe des eigenen Könnens und der Merkmale des jeweiligen Geländes sorgt immer wieder für neue Motivation. Im Vordergrund steht dabei nicht das Besiegen eines Gegners, sondern die erfolgreiche Bewältigung der gestellten Herausforderungen.
Der Einstieg in den Orientierungslauf
Wie schon erwähnt, spielt das Alter für den Einstieg in den OL keine Rolle. Schon kleine Kinder können mit sogenannten Kinder-OLs, die bei vielen Wettkämpfen angeboten werden, spielerisch an den Sport herangeführt werden. Genauso verschließt sich Orientierungslauf keinem, der im fortgeschrittenen Alter, noch einmal etwas Neues ausprobieren möchte. Sowohl bei kleinen regionalen Läufen als auch bei Wettkämpfen auf Bundesebene gibt es entsprechende Kategorien für Neulinge.
Auch wer nicht gleich bei einem Wettkampf sein Glück probieren möchte oder generell mehr an Freizeit- und Gesundheitssport interessiert ist, für den bieten sich als kompetente Partner für den Einstieg die dem DTB angeschlossenen Vereine an. In jedem Bundesland gibt es Turn- und Sportvereine mit OL-Gruppen, vereinzelt sogar spezielle Orientierungslaufvereine. Wo der nächste in Ihrer Nähe ist, sagt Ihnen der Fachwart des entsprechenden Landesturnverbandes. Wer andererseits nicht die Bindung an den Verein sucht, ist ebenfalls gern gesehener Gast bei Orientierungsläufen und -läufern.
Mancherorts ist OL auch Bestandteil des Schulsports, und auf vielen Turnfesten werden ebenfalls – zumeist freizeitsportlich orientierte – Orientierungsläufe angeboten.
Spitzenleistungen im Orientierungslauf
Nicht nur für den Freizeit- und Gesundheitssport ist der Orientierungslauf geeignet, auch für Spitzensportler birgt diese Sportart ihre Reize. So gibt es jährlich deutsche Meisterschaften in der klassischen Disziplin, auf der Kurzstrecke, im Staffel- und Mannschafts-OL. Alle zwei Jahre finden Weltmeisterschaften statt, in den Jahren dazwischen gibt es Weltcup-Serien.
Auf internationaler Ebene prägten jahrelang die Athleten aus den skandinavischen Ursprungsländern des OL das Bild. In den letzten Jahren ist vor allem durch die neuen Nationen in Mittel- und Osteuropa und durch die Athleten aus der Schweiz einige Bewegung in die internationale OL-Szene gekommen. Die Deutschen haben bei der Weltmeisterschaft 1995 im eigenen Land erstmals engere Tuchfühlung mit der Weltspitze aufgenommen. Bezeichnenderweise lebt die deutsche Top-Athletin Frauke Schmit Gran (Lahr), der bei der WM 1995 um ein Haar der Sprung in die Medaillenränge geglückt wäre, seit mehreren Jahren in Norwegen. Doch auch der einheimische Nachwuchs gibt Anlaß zur Hoffnung, wie etwa die Junioren-Vizeweltmeisterin Karin Schmalfeld aus Halle/S.
Um auf dem internationalen Parkett mit vorn dabei zu sein, trainieren Spitzenläufer bis zu 200 km pro Woche und hängen gelegentlich auch einmal für mehrere Jahre ihren Job an den Nagel. Das Ergebnis ist zwar selten Ruhm und Reichtum, doch sportlicherseits kann es sich durchaus sehen lassen: Im direkten Vergleich hat schon mancher Weltklasse-Bahn- oder -Straßenläufer im unwegsamen Terrain der Orientierungsläufer den kürzeren gezogen.
Die vielen Gesichter des Orientierungslaufes
Während in der klassischen Disziplin des Orientierungslaufs der Athlet alleine im Wald seinen Weg zu den Posten finden muß, locken auch vielfältige Variationen dieser Form. So gibt es z.B. als Teamwettbewerbe die Staffel und den Mannschafts-OL.
Eine Staffel besteht zumeist aus drei Läufern, die nacheinander ihre Strecken im Wald bewältigen müssen, und jeweils auf ihre Teamkollegen wechseln. Es gibt jedoch auch traditionsreiche Staffelveranstaltungen in Skandinavien, bei denen sogar 8 bis 10 Läufer eines Vereins eine Staffel bilden. Beim Mannschafts-OL gehen die Mitglieder einer Mannschaft gleichzeitig an den Start, müssen dann ein Postennetz unter sich aufteilen und sich schließlich möglichst zeitgleich vor dem Ziel wieder treffen.
Auch im Einzellauf gibt es weitere Disziplinen, so beispielsweise den Kurzstrecken-OL, bei dem die Laufzeiten nur etwa 30 Minuten betragen. Hier besteht die Kunst für den Athleten darin, bei höchstem Tempo in schwierigem Gelände alle Posten fehlerfrei anzulaufen. Schon Sekunden entscheiden hier oft über Sieg oder Niederlage. Der Gegenpol dazu ist der Langstrecken-OL, bei dem die Strecken bis zu 30 km Länge erreichen können. Eine weitere Variation ist der Score-OL. Hier ist dem Läufer keine Strecke vorgegeben, sondern nur ein Netz einzelner Postenstandorte sowie eine Maximalzeit. Innerhalb dieser vorgegeben Zeit gilt es, möglichst viele Posten anzulaufen.
Auch im Winter sind Orientierungsläufer nicht untätig. Eine spezielle OL-Disziplin für diese Jahreszeit ist der Ski-OL. Auf komplexen Loipen-Netzen versuchen die Skilangläufer, den schnellsten Weg zu ihren Posten zu finden. In dieser Disziplin gibt es ebenfalls Weltcupläufe, und die Internationale Orientierungslauf-Föderation (IOF) bemüht sich derzeit um eine Aufnahme des Ski-OL in das Programm der Olympischen Winterspiele.
Ein in seiner Art einzigartiger Wettkampf ist der traditionsreiche 24-Stunden-OL, ein Staffellauf, der abwechselnd in verschiedenen Regionen Thüringens ausgetragen wird. Ein Team besteht aus sechs Läufern. Die Läufer wechseln sich ständig ab (der sechste Läufer wechselt wieder auf den ersten), so daß jedes Team ununterbrochen 24 Stunden unterwegs ist. Es gewinnt das Team, das die meisten Strecken abläuft. Bei diesen Wettkämpfen gehen oft hundert und mehr Staffeln an den Start.
Orientierungslauf – ein Sport auch für Behinderte
Zwar führt der Weg den normalen Orientierungsläufer auch einmal über Stock und Stein, doch dank einer relativ jungen Disziplin müssen auch körperlich Behinderte beim Orientierungslauf nicht zu kurz kommen. Bei „Rolli-OLs“ werden auf ebenen Böden, also Straßen und Wegen, OL-Strecken für Menschen konzipiert, die im Rollstuhl sitzen. Dabei gibt es unterschiedliche Methoden. Die gängigste ist, daß unweit von einem Weg mehrere Postenschirme relativ dicht nebeneinander gehängt werden. Der „Rolli-Oler“ muß von seinem Standpunkt aus einschätzen, welche der Markierungen den Posten darstellt, der auf der Karte eingezeichnet ist.
Eine andere Möglichkeit ist, daß der „Rolli-Oler“ auf einem komplexen Wegsystem unmittelbar zu seinem Posten zu gelangen versucht, um ihn zu stempeln. Die erste Methode kann auch von geistig Behinderten bewältigt werden.
Bei der OL-WM 1995 in Deutschland wurde Rollstuhl-OL – international „Trail-Orienteering“ genannt – der breiten öffentlichkeit vorgestellt. In Skandinavien wird von vielen Vereinen sogar wöchentlich „Rolli-OL“-Training angeboten.
Orientierungslauf und Umwelt
Ein Aspekt, den keine Sportart heutzutage vernachlässigen darf, ist die Frage nach ihrer Umweltverträglichkeit. Gerade Natursportarten wie der Orientierungslauf werden hier oft besonders kritisch eingeschätzt. Die Orientierungsläufer im Deutschen Turner-Bund sind sich ihrer besonderen Verantwortung für die Nutzung der Natur bewußt und arbeiten seit Jahren daran, Belastungen des Waldes, die durch die Ausübung ihrer Sportart entstehen, zu minimieren. So ist es eine Selbstverständlichkeit, daß bei der Auswahl eines Geländes in Kooperation mit den Forst- und Naturschutzbehörden empfindliche Bereiche berücksichtigt werden. Auch bei der Bahnlegung sind Schutzgebiete tabu und es werden Ruhezonen für das Wild eingeplant. In der Terminplanung wird auf Brut- und Setzzeiten so weit wie möglich Rücksicht genommen. In aller Regel findet in einem Waldgebiet höchstens einmal jährlich ein größerer Wettkampf statt. Für eine möglichst breite Umsetzung dieser Grundsätze gibt es in allen Landesfachausschüssen und im Technischen Komitee OL des DTB Beauftragte für Natur- bzw. Umweltschutz, die regelmäßig aktualisierte Empfehlungen für die Durchführung von Orientierungsläufen an die Vereine richten. Die großen Wettkämpfe auf Bundesebene werden jährlich einer überprüfung ihrer Umweltverträglichkeit unterzogen, und für die vorbildlichste Organisation winkt dem Ausrichter ein vom Technischen Komitee vergebener Umweltpreis. Beachtlich ist hierbei, daß neben Aspekten der unmittelbaren Waldnutzung auch weitere Kriterien wie etwa Unterstützung einer umweltverträglichen Anreise der Teilnehmer in die Bewertung eingehen. Hier kann wohl von einer Vorreiterrolle der Orientierungsläufer auch im Vergleich zu anderen Sportarten gesprochen werden.
Bei einer besonnenen und in Kooperation mit den Behörden geplanten Organisation eines Orientierungslaufes lassen sich somit auch größere Veranstaltungen mit relativ geringen Belastungen der Natur durchführen. Dies belegen auch wissenschaftliche Untersuchungen in Schweden und der Schweiz, die ergaben, daß bei OL-Veranstaltungen – trotz für deutsche Verhältnisse hoher Teilnehmerzahlen – schon wenige Tage später kaum noch meßbare Beeinträchtigungen von Flora und Fauna in dem entsprechenden Gebiet vorlagen.
Schließlich sollte nicht vernachlässigt werden, daß eine verantwortungsvolle Nutzung des Waldes beim Orientierungslauf auch dazu führt, daß das Bewußtsein um den Wert einer intakten Natur durch konkretes Erleben gestärkt wird.
Der Inhalt dieses Dokuments entstammt der Broschüre „Orientierungslauf – Eine Natursportart stellt sich vor“: | |
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Herausgeber (V.i.S.d.P.): Deutscher Turner-Bund e.V. Technisches Komitee Orientierungslauf Otto-Fleck-Schneise 8 60528 Frankfurt Fotos: Rochus Tschirner Text: Eike Bruns, Rolf Wüstenhagen Frankfurt/Main 1996, 1. Auflage |